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Gaza 2025 – wie der Genozid die Losung der Haitianischen Revolution wiederbelebt

Im Jänner 2010 organisierte Dar al Janub in Kooperation mit der Österreichisch-Arabischen Gesellschaft eine Veranstaltung zum israelischen Angriff auf Gaza 2008/2009[1]. Neben der Politologin Helga Baumgarten, der schottischen Abgeordneten Pauline McNeill und dem österreichischen Bundesminister a.D. Erwin Lanc berichtete Dr. Muneer Deeb, ein aus Gaza stammender und in Deutschland praktizierender Arzt, über seinen damaligen Aufenthalt in Gaza. Er war im Dezember 2008 auf Familienbesuch in Gaza, als die Luftangriffe begannen. Er verbrachte die gesamte Zeit des Krieges im Shati-Krankenhaus im Operationssaal und operierte am laufenden Band. Der Bericht damals ging unter die Haut, erhielt jedoch keinerlei mediales Interesse.

Dr. Deeb berichtete auch über Spezialmunition und Phosphor, der sich durch den menschlichen Körper frisst, Amputationen ohne Narkose und den schleichenden Tod von Krebs- und Dialysepatienten wegen fehlendem Strom und Medikamenten.

Nach dem Waffenstillstand und noch vor den weiteren drei Totalangriffen auf Gaza gab es Nahostkonferenzen, Wiederaufbauprogramme, akademische Debatten über Ein- oder Zweistaatenlösungen. Amnesty International schwieg damals, und die UNO funktionierte noch und wickelte die Folgen der Angriffe mit den üblichen – und heute nunmehr undenkbaren – Hilfsprogrammen ab.

Gaza im Sommer 2025 – also 15 Jahre später – ist das Shati-Krankenhaus eine Ruine und auch die anderen, einst hochmodernen Krankenhäuser, sind nach internationalen Standards funktionsuntüchtig. Das einst für ihren Weltruf bekannte medizinische Personal in Gaza ist – wenn noch am Leben – nicht mehr in der Lage, die Menschen medizinisch zu versorgen. Diese Menschen stehen knietief im Blut und sortieren die von den USA, Großbritannien und Deutschland – der Allianz des Genozids – zerstückelten Körperteile palästinensischer Opfer. Trump, Starmer, Merz und andere „Kannibalen“[2] haben in Gaza nicht nur den Menschen des globalen Südens den Krieg erklärt, sondern zeitgleich die Methodik in die Wohnzimmer der Menschen im globalen Norden in 4K projiziert. Beim Wiederanhören des Berichts von Dr. Muneer Deeb scheint es so, als ob er über Luxusprobleme erzählen würde.

Und jetzt bauen sie also wirklich, im Jahr 2025, vor unseren Augen ein Konzentrationslager im Gazastreifen. Den Namen „Ghetto“ kann Gaza schon lange nicht mehr für sich beanspruchen, denn Ghetto bedeutet Leben unter Absonderung. In Gaza wird Vernichtung unter Absonderung organisiert. Und es ist verblüffend, wie gelassen die Gesellschaften im globalen Norden, einschließlich ihrer betroffenen links-liberalen, muslimischen und diversen Mittelklassen, dieses zeitgenössische Ereignis hinnehmen. Der Desensibilisierungsprozess scheint hier in den Zentren des Nordens abgeschlossen zu sein. Es wirkt befremdlich, wenn auf kulturellen Massenevents die Menge „Free Free Palestine“ ruft.

1. Ökonomie als militante Wissenschaft

Wenn der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz die Vernichtungs- und Vertreibungspolitik des europäischen Siedlerstaats als „Drecksarbeit“ bezeichnet, knüpft er mit Worten an die Deutsche Tradition europäischer Großraumwirtschaft an. Eine Tradition, die in Deutschland und Österreich längt politische Realität ist. Der ehemalige Präsident des Vereins Deutscher Wirtschaftswissenschaftler, Heinrich Bechtel[3], hat 1941, mitten im Krieg, ökonomische Konzepte für den Tag nach dem Endsieg vorgestellt – zu dem es, alhamdulillah, nie kam. Also: den Expansionskrieg unter ökonomischen Gesichtspunkten zu bewerten und damit Verwertung und Wertschöpfung als Teil der Kriegsführung zu sehen.

Heute wird von den Vertretern der Eliten wie Merz, Starmer oder Macron globaler gedacht – aber auch eingeschränkter, weil die kolonialen Neuordnungskonzepte jederzeit mit dem Hauptakteur USA abgestimmt werden müssen. Die grundlegenden Fragen bleiben jedoch bestehen.

2. Die traditionelle Frage des Kolonialismus – Vertreibung oder Vernichtung

Der Historiker Gerald Horne beschreibt in seiner Arbeit zur „Konterrevolution von 1836“[4] das Dilemma europäischer Siedler:nnen in der Gründungsphase eines auf Sklavenarbeit und weißer Vorherrschaft basierenden Rechtssystems. Der Siedlerstaat Texas war wie der europäische Siedlerstaat am Mittelmeer heute von innen und von außen bedroht. Im inneren des Siedlungsgebietes gab es eine nicht verwertbare und widerständige indigene Bevölkerung. An den Außengrenzen formierten sich Staatsgebilde, die durch die Haitianische Revolution von 1791 inspiriert waren und weiße Vorherrschaft als Staatsmodell ablehnten. Dort formierten sich bewaffnete schwarze Armeen, die nichts anderes wollten als Texas – also den Faschismus – zu verhindern. Das Herrschaftsmodell und Denkkonzept der texanischen Siedler:innen ließ nur zwei Möglichkeiten offen: Vertreibung oder Vernichtung.     

Vertreibung, mit der Möglichkeit, dass die Indigenen zurückkehren. Daraus ergibt sich die Folgefrage: Wie weit vertreiben? Oder zweitens: Vernichtung, was einen hohen logistischen Aufwand an Soldaten, Waffen und Munition mit sich bringt. Auch Konzentrationslager sind logistische Großunternehmen, die selbst bei Zwangsarbeit erst nach langer Zeit profitabel werden.

Die Deutschen und Österreichischen „Auswanderer“ (Siedler:innen wandern nicht, sondern werden mit Schiffen und unter militärischem Schutz in ferne Gebiete transportiert), die in den 1840er Jahren in Texas die Grundlage für den weißen Fascho-Staat Texas bildeten, konnten sich bereits auf die durch Vertreibung und Vernichtung „gesäuberten“ Gebiete niederlassen. Die zwei wesentlichen politisch-militärischen Architekten, wie Gerald Horne sie beschreibt, stehen auch als gegensätzliche Personen für die zwei Methodiken. Stephen F. Austin galt als der „Verhandler“. Er war moderat und wollte mit dem benachbarten Mexiko Abkommen schließen. Und Sam Houstons Denken und Handeln war von Vernichtung geprägt.               

In Texas seinerzeit und in Gaza heute waren und sind die Antworten von den aktuellen politischen und militärischen Realitäten geprägt. Und somit sieht man heute in Gaza und Palästina eine Kombination aus Vernichtung und Vertreibung – ähnlich den Vorgehensweisen in Texas. Oder den Methoden des italienischen Kolonialregimes in Libyen, den französischen Methoden in Algerien und den britischen in Indien, Irland oder Kenia. Wobei die britische Vernichtungs- und Kolonialpolitik wohl die effektivste Form herausbilden konnte, da sie enorm viel praktische Erfahrung in der Kontrolle und im Massenmord indigener Bevölkerungen hatte. Die Deutschen und Österreicher:innen in Texas – und später in den 1940er Jahren in Osteuropa – waren zum Teil Anfänger, konnten jedoch auf die Erfahrungen der Brit:innen zurückgreifen.

Aber natürlich sind die Erfahrungen der deutschen Kolonialist:innen in Deutsch-Südwestafrika dreißig Jahre später[5] in Wola, in Warschau und in Auschwitz eingeflossen – damals kombiniert mit moderner Erfassungstechnologie von IBM.

3. Vom Bali-Strand zum Gaza-Strand – vom Madagaskarprojekt zum Libyen-Plan

Die USA sind nicht nur die führende Macht, die Israel in den letzten Dekaden durch eine komplexe militärische und ökonomische Architektur in Westasien und darüber hinaus abgesichert hat, sie haben es auch geschafft, aus dem Siedlerprojekt phasenweise einen normalen Staat zu machen. Zwischen 1948 und 2023 schien Israel ein Staat mit einem Budget und einer Wirtschaft zu sein, mit einer eigenen Kultur, in der es Klassen und Widersprüche unter ihnen gibt. Diese Realität war vielleicht mehr die Projektion westlicher Bürger in dieses Siedlerprojekt, in dem Marxist:innen, Katholik:innen und irgendwelche Hippies ihre rassistischen Wahnvorstellungen reguliert ausleben konnten. Auf jeden Fall ist es Vergangenheit.   
Durch den Palästinensischen Angriff vom 7. Oktober 2023 und dessen Folgen wurden die USA damit konfrontiert, das Kommando in Tel Aviv übernehmen zu müssen. Der zionistische Staat wurde strategisch geschlagen und hat sowohl nach innen als auch nach außen versagt.

Nach innen hat er den zumeist europäischen Siedler:innen von Haifa bis Ofer versprochen, sie könnten mit einigen Abstrichen ein Leben wie in Frankfurt, Nizza oder London führen. Dieser Gesellschaftsvertrag wurde mit dem Übergang von einem Apartheidsystem zum offenen Genozid aufgelöst. Siedler:innen, die seit Jahrzehnten in Tel Aviv oder Ma’ale Adumim ein ziviles Leben führten, müssen jetzt genauso kämpfen wie ihre faschistischen Mitbürger:innen auf einem Hügel in der Westbank.

Nach außen hin hat Israel versagt – d. h., es ist gegenüber den Regierungen des globalen Nordens, angeführt von den USA, trotz enormer politischer, militärischer und ökonomischer Unterstützung seiner Aufgabe nicht gerecht geworden: die indigene Bevölkerung so weit unter Kontrolle zu halten, dass das eigentliche Ziel – die strategische Kontrolle Westasiens – garantiert ist. Die Bevölkerungen und souveräne Staaten in der Region lehnen das Siedlerkonzept ab. Die ungelösten Probleme von 1948 sind heute nicht mehr in den Griff zu bekommen.

Die Idee von Golfplätzen und Hotels an der Küste von Gaza, wie sie US-Präsident Trump vorstellte, ist angelehnt an erfolgreich durchgeführte Massaker im globalen Süden.

Mit Unterstützung des indonesischen Suharto-Regimes durch CIA, BND und Mossad wurden 1965 mehr als eine Million Menschen, die der kommunistischen Partei nahestanden, umgebracht. Einer der Schauplätze dieser Massaker war Bali.[6] Auf den Massengräbern wurden später die Hotels gebaut, in denen westliche Tourist:innen heute Urlaub machen.

Die heute in Gaza abgeschlachteten Menschen sollen die Fundamente für Golfplätze und orientalistische Hotels bilden.

Für die Überlebenden müssen – aus der Logik des europäischen Siedlerstaats, aber auch aus der Logik des Siedlerimperiums USA – neue Lösungen her: Sie sollen verschwinden. Die benachbarten Regime Ägypten und Jordanien haben die Aufnahme von Überlebenden aus Gaza aus innenpolitischen Gründen abgelehnt, weil sie das historische Wissen um die Problematik der palästinensischen Flüchtlingslager in Sichtweite Palästinas haben – und die komplexen Folgen bis heute spüren.

Das Madagaskarprojekt[7] war eine Idee der Behörden im deutschen Faschismus, die jüdische Bevölkerung in den eroberten Gebieten Osteuropas auf eine „Überseelösung insularen Charakters“ zu deportieren. Die Idee kam nie in die Planungsphase, weil allein die Masse an Menschen (mehrere Millionen) einen unlösbaren logistischen Aufwand dargestellt hätte und enorme Zeit in Anspruch genommen hätte. Eine ähnliche Einschätzung hatte 2024 der israelische Finanzminister. Er beklagte, man wäre jahrelang damit beschäftigt, zwei Millionen Palästinenser:innen mittels LKWs aus dem Gazastreifen in andere Gebiete zu deportieren – und diese Zeit habe man nicht.

Seine pragmatische Schlussfolgerung war: Das Aushungern sei die bessere Methode. Und dort befinden wir uns seit einem Jahr.

Aus diesen historischen Erfahrungen folgt, dass das Konzentrationslager „Humanitarian City“ die Abwicklung der Vertreibung so organisieren muss,
– dass eine Rückkehr kaum noch möglich ist,
– und dass sie in einem schnellen zeitlichen Rahmen abgewickelt wird.

Das Regime in Libyen oder südostasiatische, größtenteils muslimische Länder, die dem Westen traditionell loyal sind – wie etwa Indonesien und Malaysia – wurden in geheimen und offenen Verhandlungen als potentielle „Aufnahmeländer“ bereits in Erwägung gezogen.

Doch diese diplomatischen Andeutungen treffen auf wachsenden Widerstand. Die Mitgliedsstaaten der sogenannten Hague Group, zu der Länder wie Südafrika, Kolumbien, Brasilien, Venezuela und Mexiko gehören, formulieren mittlerweile eine dezidiert völkerrechtlich fundierte Gegenposition. Sie fordern nicht ein Management der Vertreibung, sondern deren rechtliche Ächtung dieser.

Auf dem Bogotá-Gipfel im Juli 2025 wurde dieser diplomatische Widerstand erstmals in institutioneller Form sichtbar. Die versammelten Staaten riefen zur juristischen Offensive auf – zur „globalen legalen Intifada“ gegen die bestehende Straflosigkeit Israels und seiner westlichen Unterstützer. Die Forderung: Durchsetzung des humanitären Völkerrechts, Einhaltung der Genozid-Konvention, gerichtliche Verfolgung politischer und militärischer Entscheidungsträger.

In diesem Kontext erscheint die Idee einer dauerhaften Umsiedlung der Bevölkerung Gazas in Drittstaaten nicht nur als logistischer Albtraum, sondern zunehmend als völkerrechtliches Vergehen, das politisch isoliert wird – selbst unter vormals prowestlichen Regierungen. Die neoliberale Rhetorik der humanitären Technik – Camps, Zelte, Notaufnahmelager, „sichere Zonen“ – stößt auf die politische Realität einer veränderten Weltordnung, in der das Imperium nicht mehr allein entscheiden kann, wo Menschen leben und sterben dürfen.

4. Eine Endlösung benötigt KI – KI benötigt die Endlösung

Die technologischen Errungenschaften Europas und seines Siedlerimperiums USA haben in der Geschichte nie der gesamten Menschheit gedient. Sie waren nie neutral. Sie dienten stets dem Machterhalt einer kleinen, weißen, imperialen Minderheit – und der Unterwerfung, Überwachung und Vernichtung aller anderen.

Im 19. Jahrhundert war es der Stacheldraht, der die Koloniallager möglich machte – zur Eindämmung, Verwaltung, später zur Tötung. In den 1920ern bombardierte das britische Empire die Bevölkerung Mosuls mit Doppeldeckern – die Geburtsstunde des Flächenbombardements. Heute fliegen Drohnen über Gaza, Niger, Afghanistan. Und auf dem Boden rollen Roboter – mit Gewehren, nicht mit Greifarmen.

Künstliche Intelligenz ist die nächste Stufe. Sie erhöht die Zielgenauigkeit, automatisiert Angriffe, überwacht ganze Bevölkerungen – nicht zur Verteidigung, sondern zur Disziplinierung, zum Aufspüren der „anderen“. Sie ist das neue Werkzeug des genozidalen Westens.

Und wie in jedem historischen Moment der Hochtechnologie müssen die nicht direkt betroffenen Gesellschaften – also wir – lernen, das zu lieben. Die Tötungsmaschinerie wird als Bequemlichkeit getarnt: Der gleiche Chip, der ein Gesicht in Rafah erkennt, erkennt auch den Fingerabdruck im Smart-Home. Die gleiche Firma, die Sensoren für Hellfire-Raketen entwickelt, lässt deinen Staubsauger automatisch zur Ladestation fahren.

Die urbane Linke trinkt Flat White, surft auf MacBooks und fliegt nach Mallorca – mit Flugzeugen, gebaut von den größten Waffenproduzenten der Welt. Und die liberalen Redaktionen, die sich über Verschwörungstheoretiker empören, schreiben heute „differenziert“ über den Genozid in Gaza – während sie Big Tech feiern und NATO-Propaganda verbreiten.

Dabei ist ein Genozid kein rein logistisches oder technisches Problem. Seine Durchführung erfordert eine ideologische Vorleistung: die Entmenschlichung. Sobald der „Goldstandard moderner Aufstandsbekämpfung“ – so nennen es US-Militärstrategen – dort etabliert ist, wird er exportiert: nach Mali, Venezuela, Burkina Faso, Iran. Die Führer der Genozidallianz – Merz, Scholz und von der Leyen, Biden und Harris, Trump, Starmer und Stoltenberg – haben in den letzten Monaten deutlich gemacht: Der privilegierte Norden wird sein System aus Sanktionen, Drohnen, Cyberkrieg und KI gegen jede Form von Widerstand anwenden. Überall. Jederzeit.

5. Der palästinensische Widerstand schafft eine klaustrophobische Situation

Der palästinensische Widerstand und die mit ihm verbündeten Kräfte verlangsamen und stören dieses koloniale Vernichtungsprojekt. Die mit dem Völkerrecht im Einklang stehenden Guerillaoperationen erhöhen den Preis, den die Besatzer zahlen müssen. Und dieser Preis ist nicht nur in Zahlen messbar, sondern bringt in der zionistischen Gesellschaft existentielle Fragen an die Oberfläche des Bewusstseins.

Das Herrenmenschentum und die Allmacht der Siedler:innen werden infrage gestellt. Die Arroganz hat über Jahre die Angst der Siedler:innen im Verborgenen gehalten – nun wird sie sichtbar. Der Widerstand hat auf der militärischen Ebene und tief in der Gesellschaft eine klaustrophobische Situation geschaffen, in der das israelische Militär trotz massiver Gewaltanwendung keine militärischen Räume gewinnt, die politisch verwertbar wären.

Dadurch bekommt der Café Latte am Strand von Tel Aviv einen Beigeschmack von Beklommenheit. Aus dieser klaustrophobischen Situation heraus ist eine absurde territoriale Verschiebung des europäischen Siedlerprojekts westwärts entstanden – also dorthin, wo die Idee geboren wurde. Die neuen Kibbuzim und zionistischen Wehrdörfer entstehen gerade auf Zypern und in Griechenland. Das als Lösungskonzept anzudenken, ist wohl für die weißen Dominanzgesellschaften im globalen Norden fremd – denn sie mögen keine Juden. Oder nur dann, wenn sie weit weg sind. Die Revolution in Haiti 1791 hatte enorme Mobilisierungskraft bei schwarzen und indigenen Menschen. Es war ein Angebot an die Menschheit für ein gerechtes Zusammenleben. Und auch heute sind die Menschen in der Region mobilisiert durch Revolutionen und Aufstände der letzten Dekaden – Revolutionen, die erfolgreich Souveränität erkämpft haben.

6. Die begrenzten Kapazitäten des Faschismus

In Texas von 1836 wurde ein politisch-rechtliches System geboren, welches enorme Kapazitäten an Vernichtung von Menschen in jeglicher technischer Vorgangsweise entfaltete. Texas wurde zum Siedlerimperium und damit zu einem globalen Expansionsprojekt. Es machte selbst vor weißen Menschen, für die es geschaffen wurde, nicht halt. Schauen wir nach Gaza, können wir die nach wie vor enorme Vernichtungskapazitäten sehen, die das System USA in der Lage ist, dort zu entfalten. Es scheint keine Grenzen zu geben – weder moralische noch technische. 

Jedoch kommt dieses System an seine politischen Grenzen. Die Kapazitäten zur weiteren Expansion sind heute offensichtlich begrenzt. Die Grenzen haben die Menschen im globalen Süden gezogen oder, wie Fanon schrieb, wurden die „kolonialen Dinge“ zu Menschen. Es sind nicht die moralischen Bedenken in den Gesellschaften des globalen Nordens, die eine Richtungsänderung verlangen. Auch nicht eine Selbstbeschränkung des Systems, das erkennen würde, wie bedroht dieser Planet mit dieser Art der Kriegsführung ist. Die Richtungsänderung kam und kommt durch eine Konfrontation aus dem Süden. Und wenn Gerald Horne die Ereignisse von 1836 in Texas als konterrevolutionäres Projekt beschreibt, das sich gegen den Humanismus von Haiti durchsetzte, so können wir vielleicht nicht ganz 200 Jahre später beobachten, wie diesem konterrevolutionären Projekt ein Ende gesetzt wird. In Gaza wird der Geist von Texas bekämpft.

Der palästinensische Widerstand ist ein antifaschistisches Projekt mit globaler Dimension.


[1] Der Gaza-Krieg (auch Operation „Gegossenes Blei“ genannt) vom Dezember 2008 bis Januar 2009 mit 1500 Toten

[2] Jack D. Forbes, Columbus und andere Kannibalen: Die indianische Sicht der Dinge (1992).

[3] Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung: Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung (2004), 311.

[4] Gerald Horne, The Counter Revolution of 1836: Texas Slavery & Jim Crow and the Roots of American Fascism (2022).

[5] Jürgen Zimmerer, Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust (2011).

[6] Vincent Bevins, Die Jakarta Methode, Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt (2023).

[7] Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung (1991) 241.