Ein Jahr nach dem israelischen Großangriff ist der Gazastreifen aus den Nachrichten verschwunden. Das weltweite mediale Interesse konzentrierte sich drei Wochen lang auf die verheerende israelische Offensive in einem seit Jahren andauernden Krieg. Streiflichtartig wurde die Situation in Gaza beleuchtet, stereotyp wurden vermeintlich zwei Kriegsparteien beschrieben, Israel auf der einen Seite, die Hamas auf der anderen. Dazwischen – hieß es – die notleidende Bevölkerung des Gazastreifens, ein bedauerlicher Kollateralschaden mit über 1.400 getöteten PalästinenserInnen. Mit der verkürzten Darstellung der Hintergründe und Ursachen des Krieges, den ahistorischen Analysen, stereotypen Kommentaren und hilflosen Statements zum Kriegsgeschehen in den meisten europäischen Medien, sowie auf außenpolitischer und diplomatischer Ebene der europäischen EntscheidungsträgerInnen, zeigten sich deutlicher denn je die Unkenntnisse über die historischen Zusammenhänge des Nahostkonflikts. Die Europäische Union als Ganzes, aber auch die führenden Einzelstaaten ignorierten die Völkerrechtsverletzungen und übernahmen in nicht wenigen Fällen die Argumentation der israelischen Regierung. Selbst als der “Verteidigungskrieg” Einrichtungen der UNO traf, schwiegen die verantwortlichen Stellen dazu. Die UNO als international anerkannte Organisation war in ihrer Handlungsfähigkeit matt gesetzt und sah tatenlos zu, selbst als die israelische Armee “gezielte Angriffe auf zivile Mitarbeiter und Institutionen der Vereinten Nationen” (UN-Bericht vom 5.Mai 2009) verübte. Die veröffentlichten und unveröffentlichten UN-Berichte über massive Verstöße seitens Israel gegen das Völkerrecht sorgten für derart massiven diplomatischen Druck, dass UN-Experten, wie der renommierte Rechtsanwalt Goldstone, als parteiisch disqualifiziert werden sollten. Der seit über 60 Jahren andauernde Krieg – unterbrochen von mehr oder weniger lang anhaltenden Feuerpausen – wurde in diesen drei Wochen politisch, medial und im öffentlichen Bewusstsein auf den Wahlsieg der Hamas 2006, die notwendige Anerkennung des Existenzrechts Israels seitens Hamas und abgefeuerte Kassam-Raketen auf zwei israelische Grenzstädte reduziert. Wie ist die Situation im Gazastreifen ein Jahr nach den israelischen Angriffen, bald vier Jahre nach dem unerklärten, politischen und wirtschaftlichen Embargo? Wovon lebt die Bevölkerung im abgeriegelten, zerstörten und nicht wieder aufgebauten Gazastreifen? Die tragische Routine nach jedem Krieg – internationale Hilfe, Wiederaufbau, Versorgung der Invaliden, medizinische Soforthilfe – all das wurde für den Gazastreifen außer Kraft gesetzt. Weshalb? Wo sind die internationalen NGOs, Ärzte, PolitikerInnen, JournalistInnen und ExpertInnen, die nach jedem Krieg die lindernde Aufgabe übernehmen vor Ort zu helfen und vor Ort zu berichten? Gaza – dem “größte Freiluftgefängnis der Welt” ist offenbar auch jede Besuchserlaubnis entzogen. Als europäische NGOs möchten wir dennoch nichts unversucht lassen Betroffene vor Ort nach Wien einzuladen und damit auch die extralegale Blockade gegen die Bevölkerung des Gazastreifens und Palästinas ein Stück weit aufzubrechen. English: One year after the massive Israeli attack, the Gaza strip seems to have been totally forgotten by the media. The world’s interest concentrated just for three weeks on the devastating strike that now seems to have degenerated into a mere anecdote of a war, which has been lasting for years. But even during the height of the conflict, the news gave just some glimpses into the situation in Gaza. In a stereotyped way two warring parties were presented: Israel on the one side and Hamas on the other; the suffering population of Gaza caught in between, giving rise to an unfortunate collateral damage amounting to 1,400 killed Palestinians. The abbreviated portrayal of the background to and the causes of the war, the ahistorical analysis, the set of stereotyped comments and the helpless statements on the ongoing war that most European media and diplomatic and political decision-makers brought forward, were the best proof of a thorough lack of understanding of the historical linkages behind the Middle East conflict. The European Union as such and the leading individual states ignored the flagrant breaches of international law and took in many cases over the argumentation of the Israeli government. Even when the “defensive war” hit UN-buildings, key decision-makers kept silent. The UN in its capacity as internationally recognized organization was checkmated and kept watching without lifting a finger even when the Israeli army perpetrated “targeted attacks on civil employees and institutions of the United Nations” (UN-Report May 5 2009). The published and unpublished UN reports on massive Israeli infringements of international law caused such a massive diplomatic pressure that UN experts like the renowned lawyer Goldstone found themselves being discredited as biased observers. The war that had been ongoing for more than 60 years – only interrupted by more or less long lasting cease fires – was reduced during these three weeks by politicians, the media and the wider public to Hamas´ poll win in 2006, the need for recognition of Israel’s right to exist and the firing of Kassam rockets on two Israeli border towns. How is the situation in the Gaza strip now that one year has passed since the Israeli attacks, and almost four years since the undeclared political and economic embargo started? How does the population earn its living in the cut off, demolished and not yet reconstructed Gaza strip? Why was the tragic routine, which one witnesses after each war consisting of international support, reconstruction, care for the disabled and medical emergency relief systematically phased out in the Gaza strip? Where are the international NGOs, the doctors, politicians, journalists and experts that after each war take care of providing assistance in situ and to give an account of the situation in the field? Gaza – the “biggest open-air prison on earth” is apparently also deprived of visits. However, as European NGO we have wished to undertake our best efforts to invite the persons concerned here to Vienna so as to force open – to a certain extent – the extralegal blockade against the Gazean and Palestinian population. One year after the attacks and four years after the undeclared sanctions against the Gaza strip Dar al Janub – Union for antiracism and peace policy and the Coordination Forum in support of Palestine in cooperation with the Society for Austrian-Arab relationship invites experts, scientists and politicians to a panel discussion to Vienna: “Gaza 2010 – Reports, expertises, analysis: One year after the Israeli attack on Gaza strip”. Organized by : Dar al Janub – Union for antiracism and peace policy and the Coordination Forum in support of Palestine In cooperation with the Society for Austrian-Arab relationship ————————————————————————————————————- Podiumsdiskussion Datum: 16. Januar 2010, 17 Uhr Veranstaltungsort: Albert-Schweitzer-Haus, Großer Saal, Schwarzspanierstraße 13, 1090 Wien Gäste am Podium: Prof. Dr. Helga Baumgarten – Autorin, Politologin, Universität Birzeit/Ramallah (Palästina) Mag. Hadil Ghazzawi – palästinensische Ernährungswissenschaftlerin, zur Versorgungssituation der Menschen im Gazastreifen Erwin Lanc – Bundesminister a.D., Ehrenpräsident des International Institute for Peace, Wien. “Völkerrechtliche Aspekte des israelischen Angriffs auf Gaza” MSP Pauline McNeill – Abgeordnete des Schottischen Parlaments, Mitglied der Delegation nach Gaza Dr.med. Muneer Deeb – PalMed Deutschland, Oberarzt der Klinik für Allgemein,- Viszeral- u. Thoraxchirurgie im Klinikum Kassel, operierte während der Angriffe in Gaza Liveschaltungen, Interviews und Videoleitung aus dem Gazastreifen und der Westbank – u.a. mit Dr. Maryam Saleh – Abgeordnete zum Palästinensischen Legislativrat Programm: 17:00h – Eröffnung der Veranstaltung und Begrüßung – Vortrag Hadeel Ghazzawi: “Die Ernährungssituation im Gazastreifen” – Vortrag und Erfahrungsbericht Dr. Muneer Deeb: “Die Situation in den Krankenhäusern in Gaza zur Zeit der Angriffe vor einem Jahr und heute, nach Jahren der Blockade” 19:00h – 19:30h – Pause 19:30h – Kultureller Beitrag: Arabische Oud-Musik 19:45h – Vorträge, Liveschaltungen, Podiumsdiskussion u.a. mit Erwin Lanc, Helga Baumgarten, Liveschaltungen, Interviews und Videobotschaften aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland (u.a. mit Maryam Saleh – Abgeordnete zum Palästinensischen Legislativrat) 21:30h – Buffet mit arabischen und palästinensischen Speisen Veranstalter: – Dar al Janub – Verein für antirassistische und friedenspolitische Initiative – Koordinationsforum zur Unterstützung Palästinas – in Kooperation mit der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen ————————————————————————————————————— Kurzer Veranstaltungsbericht Gaza 2010 – Berichte, Expertisen, Einschätzungen: Ein Jahr nach dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen Am Samstag, 16. Jänner 2010 fand im Albert-Schweitzer-Haus in Wien die Diskussions- und Informationsveranstaltung ” Gaza 2010 – Berichte, Expertisen, Einschätzungen: Ein Jahr nach den Angriffen auf Gaza” statt. Etwa 150 bis 200 Personen besuchten den Diskussionsabend, der von “Dar al Janub – Verein für antirassistische und Friedenspolitische Initiative”, dem “Koordinationsforum zur Unterstützung Palästinas”, sowie der “Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen” organisiert wurde. In der Eröffnungsrede der VeranstalterInnen durch Mag. Peter Leidenmühler wurde auf die Bedeutung von NGOs für die Unterstützung der Menschen in Palästina hingewiesen. NGOs könnten dort Brücken bauen, wo die offizielle Politik dies nicht könne oder wolle, und NGOs seien es, die marginalisierte und politisch unbequeme Themen an die Öffentlichkeit bringen und so einen offenen und pluralistischen Diskurs garantierten, da sie nicht unter politischer und ökonomischer Einflussnahme stünden. Mag. Ghassan Obaid, der im Namen des “Koordinationsforums zur Unterstützung Palästinas” sprach, erinnerte in seiner Rede an die Ereignisse in Gaza vor einem Jahr, an die schwierige Situation der Menschen in Gaza heute. Die israelische Blockade und der Krieg gegen Gaza hätte nicht nur die Zielsetzung die Menschen in Gaza zu isolieren und auszuhungern, sondern auch den Willen der Bevölkerung und ihre Zukunftsperspektiven zu vernichten. Die versprochene Wiederaufbauhilfe sei ausgeblieben, selbst die Einfuhr von Zement für den Wiederaufbau sei nicht möglich. Mag. Obaid betonte die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft der Bevölkerung Gazas zu helfen und bedankte sich für die Unterstützung durch europäische Initiativen und NGOs der Zivilgesellschaft. Azza Baschir, 1967 aus der Stadt Deir al Balah im Gazastreifen vertrieben, klagte in ihrer Rede die Völkerrechtsverletzungen Israels und die verzerrte Berichterstattung der europäischen Medien an. Es sei das demokratische Recht jedes Menschen durch direkte und unverfälschte Medienberichte über die Ereignisse außerhalb der geographischen Grenzen seines Landes informiert zu werden. Dieses Recht werde sowohl durch die israelischen Akkreditierungsrestriktionen für JournalistInnen, durch die Blockade und Abriegelung des Gazastreifens, aber auch durch die teilweise voreingenommenen MedieninhaberInnen selbst gebrochen. Frau Baschir appellierte daher auch an die europäische Zivilbevölkerung, Druck auf EntscheidungsträgerInnen auszuüben, um die ungerechtfertigte Isolation von Gaza zu beenden. Im ersten Panel erläuterte Mag.a Hadeel Ghazzawi, Ernährungswissenschafterin an der Universität Wien, die medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Aspekte der Situation in Gaza. In ihrem Vortrag verdeutlichte sie, unter welchen Mangelerscheinungen vor allem Kinder in Gaza leiden. Über 50% der Bevölkerung von Gaza seien unter 15 Jahre. Insbesondere der Mangel an Vitamin A führe zu Fehlentwicklungen, ebenso habe das verschmutzte Trinkwasser gravierende gesundheitliche Auswirkungen. Dr. Muneer Deeb, Oberarzt am Universitätsklinikum für Chirurgie am Klinikum Kassel und Vorsitzender der ärztlichen Hilfsorganisation ” PalMed Deutschland” berichtet von seinem Einsatz in Krankenhäusern in Gaza während der israelischen Angriffe voriges Jahr. Die Operationssäle seien vollkommen überbelegt gewesen, jedes Operationsteam musste mehrere Operationen zeitgleich und teilweise auch in den Gängen des Krankenhauses und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen durchführen. Da die israelische Armee auch das Krankenhaus angriff und in Brand steckten, mussten die Patienten und hilfesuchende Zivilisten sogar aus dem Krankenhaus evakuiert werden. Dr. Deeb schilderte unter anderem die verheerende Wirkung der von Israel eingesetzten Waffen, wie weißem Phosphor, Uran- und DIME-Munition. Diese Waffensysteme führen zu schweren Verstümmelungen der Gliedmaßen, die nur bedingt bzw. gar nicht behandelbar sind und massiver Verseuchung der Gebiete mit unabschätzbaren Langzeitwirkungen. Ein Jahr nach dem Krieg sei insbesondere durch den Mangel an medizinischem Material durch die Blockade die Nachbehandlung der Patienten nicht gewährleistet. Humanitäre Hilfe gelange aufgrund der Blockade nicht in den Gazastreifen, so dauere es beispielsweise für Injektionsmaterial der Firma Braun ein halbes Jahr bis die Genehmigung für die Einfuhr erteilt werden würde. Ebenso sei die Einfuhr von Arm- und Beinprothesen für Invalide nicht im ausreichenden Maß gewährleistet, womit die Rehabilitation der Verwundeten zunichte gemacht werde. Eine weitere Auswirkung der Blockade sei der Rückgang der Ausbildungsqualität, da der notwendige wissenschaftliche Austausch erliege. Die Organisation “PalMed” hätte genügend Projekte ausgearbeitet (z.B. Hilfslieferungen, Austausch von medizinischem Personal, u.v.m.), könnten diese aber aufgrund der fortgesetzten Blockade nicht umsetzen. Im zweiten Panel wurde auf die politische Situation ein Jahr nach den Angriffen eingegangen. Bundesminister a.D. Erwin Lanc zeichnete in seinem Vortrag die historischen Entwicklungen bis in die heutige Zeit nach. Der israelische Anspruch auf Gaza und das Westjordanland sei weder aufgrund historischer Mythen noch aufgrund völkerrechtlicher Bestimmungen gerechtfertigt. Erwin Lanc stellte fest, dass es für eine Lösung des jahrzehntelangen Konflikts vor allem einen Wechseln in der israelischen Politik bedürfe, der wiederum nur durch Druck von Außen vollzogen werden könne. Insbesondere müssten die GeldgeberInnen aus Europa und aus den USA Israel durch ökonomischen Druck zu einer Änderung der Politik bewegen. Prof. Dr. Helga Baumgarten ging in ihrem Ausführungen auf den, die Gesamtsituation erschwerenden Konflikt zwischen Fatah und Hamas ein und akzentuierte die Bedeutung der sogenannten Tunnelökonomie, als die derzeit einzig mögliche Vorgehensweise, um lebensnotwendige Waren in den Gazastreifen zu importieren. Die jahrzehntelang diskutierte Zweistaatenlösung würde mittlerweile beinahe völlig obsolet sein, und immer mehr ExpertInnen gingen von der Realität aus, dass heute PalästinenserInnen und Israelis de facto in einem gemeinsamen Staat leben, und die Lösung nur eine völlige Umgestaltung der rechtsstaatlichen Situation sein könne, die die gravierende Ungleichbehandlung der EinwohnerInnen in BürgerInnen unterschiedlicher “Klassen” aufgrund ethnischer Zugehörigkeit aufhebe. In einem Livegespräch und Telefoninterview mit Machmud Tafech, einem Arabischlehrer aus Gaza-Stadt, beschrieb dieser die dramatische Lebenssituation aus der Perspektive der BewohnerInnen Gazas. Man müsse jederzeit mit erneuten israelischen Angriffen rechnen und lebe in einem permanenten Kriegszustand. Dr. Maryam Saleh, Abgeordnete des palästinensischen Legislativrates richtete sich in einer Videobotschaft an die Zivilgesellschaft Europas. Sie bedankte sich für alle Unterstützung, appellierte jedoch gleichzeitig, die palästinische Gesellschaft in ihrem Streben nach Freiheit noch stärker zu unterstützen. Ihrer Einschätzung nach sei der geplante Bau einer Stahlmauer um Gaza eine höchst gefährliche Entwicklung, da dieser den Menschen in Palästina auch noch die letzten Möglichkeiten und Hoffnungen rauben würde. Zum Schluss der Veranstaltung wurde die Publikumsdiskussion eröffnet, in der Fragen und Stellungnahmen der ZuhörerInnen beantwortet und erörtert wurden. Ein anschließendes Bufett mit arabischen, türkischen und palästinensischen Speisen beendete den Abend. Eröffnungsrede von Dar al Janub über die Verantwortung von NGOs » Video-Grussbotschaft der Abgeordneten zum Palästinensischen Legislativrat, Dr. Maryam Saleh https://www.youtube.com/watch?v=M8yGKR5DpGg |