Wie „lebensfähig“ ist ein zukünftiger palästinensischer Staat?

Kommentar zum VIDC-Kongress „Perspektiven jenseits von Krieg und Krise II – Nahrungsmittelhilfe, Armutsverwaltung und Entwicklungspolitik im israelisch-palästinensischen Konflikt

Die im Rahmen der Konferenz diskutierten Schwerpunkte waren unter anderem:
die Rolle internationaler GeldgeberInnendie Konsequenzen des israelischen Sicherheitsdiskurses auf die Vergabe internationaler Gelderdie Auswirkungen der Geldgeberinnenpolitik auf die palästinensische Zivilgesellschaft der Wahlsieg von Hamas im Januar 2006 sowie die Folgen der Friedensprozesse von Oslo für die palästinensische Ökonomie. Die Organisation einer derartigen Konferenz – mit dem Ziel palästinensische VertreterInnen unterschiedlichster Fraktionen einzuladen – ist, heute mehr denn je, unweigerlich mit politischen Fragen des israelisch-palästinensischen Konfliktes verwoben. Seit dem Wahlerfolg von Hamas vor nun mehr als drei Jahren hat sich ein Großteil der internationalen Gemeinschaft dem politischen, ökonomischen und sozialen Boykott der neu gewählten Regierung und damit indirekt der Bevölkerung Gazas angeschlossen. Wie die Entwicklungen der letzten Jahre zeigten, waren die Folgen eines derartigen Embargos für die in Gaza lebenden Menschen fatal.

Zwei der vom VIDC eingeladenen ReferentInnen: Frau Maysoon al-Ramahi (Verteterin der islamischen Frauenorganisation Al-Khansa) und Herr Rami Sublaban (Assistant Project Manager im palästinensischen Vertretungsbüro der Turkish International Cooperation and Development Agency der türkischen Regierung in Palästina) wurden an ihrer Ausreise aus Palästina gehindert. Indem die israelischen Behörden – wie im Falle von Mayson al-Ramahi – VertreterInnen von westlichen Geldern unabhängiger NGO´s die Ausreise verweigern, wird von vorne herein eine balancierte und demokratische Diskussion im Rahmen internationaler Konferenzen, bei der VertreterInnen unterschiedlichster Fraktionen zu Wort kommen können, verhindert.

Das wirft wiederum die Frage auf, inwiefern die israelische Staatsmacht islamische VertreterInnen per se mit Hamas gleichsetzt (und diese generell unter Terrorverdacht stellt), und inwiefern die internationale Gemeinschaft dieser israelischen Definitionsmacht folgt. Die Tatsache, dass VertreterInnen bestimmter NGOs die Teilnahme an Diskussionen in Europa verwehrt bleibt, gewährt den OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen der Konferenz einen Einblick in den von Ausgangssperren, Boykott und politischer Repression geprägten Alltag der palästinensischen Bevölkerung.

Nichts desto Trotz oder vielleicht auch gerade deshalb betonten die restlichen ReferentInen sowie die OrganisatorInnen des Kongresses immer wieder, dass die Lösung für die festgefahrene Geldgeberpolitik in Palästina eine politische sein müsse.

Die Vorträge von Leila Farsakh, Samia Botmeh und Gerhard Pulfer ermöglichten den TeilnehmerInnen der Konferenz einen detallierten Überblick über die vergangenen und gegenwärtigen ökonomischen Entwicklungen Palästinas aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die Friedensprozesse von Oslo und dessen Auswirkungen auf die palästinensische Ökonomie

Laut der Politologin Leyla Farsakh sei durch Oslo ein Prozess eingeleitet worden, durch dessen politische und ökonomische Implikationen die palästinensische Bevölkerung in eine strukturelle Abhängigkeit getrieben worden sei. Dieser Prozess weise ihrer Einschätzung nach “koloniale” Charakteristiken auf. Die ökonomische Agenda von Oslo habe es nicht nur verabsäumt Prosperität und eine Stärkung der palästinensischen Wirtschaft zu realisieren, vielmehr seien der palästinensischen Gesellschaft durch diese Prozesse noch mehr Ressourcen, sowie Grund und Boden entzogen worden.
Die mit Oslo einhergehende Fragmentierung und Bantustanisierung der besetzten Gebiete habe deshalb die Entstehung eines eigenständigen palästinensischen Staates verunmöglicht.
Die 1993 formalisierte und durch Oslo institutionalisierte Politik der Ausgangssperren war – so Farsakh – einer der Hauptgründe für den Verfall der Lebensstandards in dieser Region. Die Rolle der internationalen Gebergemeinschaft habe sich durch Oslo vor allem dahingehend geändert, dass sie ab nun maßgeblich für die Verwaltung der palästinensischen Wirtschaft verantwortlich war, was vorher nicht der Fall gewesen sei. Dieser Prozess habe Palästina aber vermehrt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht, das mehr die Nicht-Entwicklung der palästinensischen Ökonomie als dessen Entwicklung voranbrachte.
Dies könne jedoch nicht ohne die Dynamiken der israelischen Besatzung verstanden werden, da Oslo kein Ende der Besatzung bedeutet habe, sondern vielmehr eine Umstrukturierung ebendieser.

Ein weiterer Aspekt der Umstrukturierung der Besatzung mit anderen Mitteln war, so Leila Farsakh, die Fragmentierung des Westjordanlandes durch israelische Siedlungen, durch die eine territoriale Aneignung palästinensischen Landes unter gleichzeitiger gesellschaftlicher Separation zwischen Israelis und Palästinensern vorangetrieben wurde.

Durch diese Fragmentierung sei eine wirtschaftliche Entwicklung Palästinas ad absurdum geführt worden. Dadurch seien selbstbestimmte Handelsbeziehungen zwischen Westjordanland und Gaza, aber auch zwischen den Gebieten im Westjordanland, die mehr und mehr zu voneinander isolierten Gebilden werden, unmöglich. Vor allem aber seien durch die Abschottung Palästinas vom Rest der Welt kaum Außenhandelsbeziehungen möglich.
Unter Einbeziehung eindrücklicher Statistiken belegte Farsakh, dass die Jahre von Oslo eine drastische Erhöhung der Arbeitslosigkeit, einen Anstieg armutsgefährdeter und von Nahrungsmittelhilfe abhängiger Menschen, sowie massive Einschränkungen für wirtschaftliche Entwicklungen mit sich brachten.

Nichts desto trotz, sei – so Farsakh – durch Oslo von Seiten Israels die Existenz eines palästinensischen Volkes erstmals in der Geschichte anerkannt worden, dem das Recht auf palästinensischem Boden zu leben zugestanden wurde. Vor Rabin habe noch kein einziger israelischer Politiker das Wort „Palästinenser“ in den Mund genommen.

Diese Argumentation ist insofern paradox, als Farsakh selbst auf eindrückliche Art und Weise belegte, wie vor allem die – maßgeblich von Rabin beeinflussten – Jahre von Oslo eine Realität schafften, die auf lange Sicht die Entwicklung einer eigenständigen palästinensischen Gesellschaft verhinderten.

Nicht zuletzt diese von der PA unterstützte Politik war es, die eine Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung 2006 abwählte. Die Wahlergebnisse von 2006 waren insofern eine Abwahl der palästinensischen Autonomiebehörde gewesen, die sich in den von Israel und der internationalen Gemeinschaft forcierten Prozess der Administrierung und Verwaltung der Besatzung Palästinas einspannen ließ. In den Jahren von Oslo hat sich ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung aus eben diesen Gründen ideologisch, politisch, sozial und kulturell von der Autonomiebehörde entfernt. Denn es sei, wie Samia Botmeh schlüssig argumentierte, nicht nur eine ökonomische, sondern vor allem auch eine soziale Frage Menschen in ein Abhängigkeitsverhältnis zu drängen. Durch Oslo hat sich innerhalb der palästinensischen Gesellschaft eine Kluft aufgetan, die vor allem damit zusammenhängt, dass VertreterInnen der PA das Vertrauen breiter Teile der Gesellschaft in sie verloren haben.
Während des Osloer Prozesses waren es vor allem islamische NGO´s, die eine von externen Interessen unabhängige Agenda entwickelten und aufgrund ihrer Verbundenheit mit der Zivilbevölkerung hohe gesellschaftliche Anerkennung erlangten.

Es sind vor allem diese NGO´s die zu einem wesentlichen Teil an einer Stärkung der sozialen Infrastruktur unter den Gegebenheiten der Besatzung beitragen.

Der Sicherheitsdiksurs Israels und die Rolle internationaler GeldgeberInnen

Laut Angaben der Weltbank würde die palästinensische Wirtschaft heute ohne internationale GeldgeberInnen erliegen. Wie – so meinte Samia Botmeh – sei diese Situation erklärbar? Schließlich sei es „pervers“, wenn ein fruchtbares Land, in dem alles wächst was eine Bevölkerung zum Überleben braucht, in eine derartige Abhängigkeit getrieben wird, sodass Diskussionen über Lebensmittelrationen geführt werden, die auf zynische Art und Weise erörtern, ob ein durchschnittlicher Palästinenser mit 1500 oder 2000 kcal pro Tag überleben könne.

Sowohl Samia Botmeh als auch Leila Farsakh betonten, dass einer derartigen Situation strukturelle Mechanismen zugrunde liegen, die vor dem Hintergrund der israelischen Besatzung und dessen Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft betrachtet werden müssten.
Eine der wesentlichen Entwicklungen, die Oslo mit sich brachte, war laut Leila Farsakh die Institutionalisierung des israelischen Sicherheitsdiskurses: Die ReferentInnen stimmten darin überein, dass die Frage der israelischen Sicherheit einen wesentlichen Einfluss auf die Vergabe internationaler Gelder, sowie die Legitimierung israelischer Politik und Maßnahmen gegenüber den PalästinenserInnen hätte.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass eine derartige Argumentation politische Gründe für die Vorgehensweise Israels oftmals verschleiert und eine differenzierte Analyse derartiger Belange verunmöglicht. So wurde die rasante Besiedlung der besetzten Gebiete während Oslo vor allem durch das Argument der Sicherheit Israels gerechtfertigt. Israel könnte sich jedoch ohne die Siedlungen kaum im Westjordanland halten, was vor dem Hintergrund des Mauerbaus mehr mit territorial-politischen Fragen, als mit dem Argument des “Schutzes vor palästinensischen TerroristInnen” zusammenhängt.

Die von Leyla Farsakh eingeführte Begrifflichkeit der “kolonialen Ökonomie” Israels vor dem Hintergrund der israelischen Siedlungspolitik ist nicht zuletzt deshalb ein zentrales Argument, um einer entpolitisierten Diskussion über die Frage israelischer Sicherheit mit Fakten zu begegnen. Welche Auswirkungen das Sicherheitsdispositiv Israels auf die konkrete Arbeit palästinensischer NGO´s hat, konnte vor allem auch deshalb nicht ausreichend diskutiert werden, weil ein gewichtiger Teil der VertreterInnen palästinensischer Zivilgesellschaft von dieser Diskussion ausgeschlossen wurde. Zentrale Fragen, wie die Auswirkungen der Repression Israels und der PA gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung, die vermehrte Zuspitzung von Klassenkonflikten durch die interventionistische Vergabe internationaler Gelder, was zu einer NGOisierung palästinensischer Bewegungen führte, sowie die damit einhergehende Entpolitisierung der Arbeit von NGO´s, konnten deshalb nur auf verkürzende Art und Weise behandelt werden.

Wie Samia Botmeh auf pointierte Art und Weise feststellte, ist die Rolle der internationalen Gemeinschaft dabei eine äußerst widersprüchliche, denn anstatt den PalästinenserInnen dabei zu helfen einen eigenen Staat aufzubauen, übernimmt sie vielmehr die Kosten der israelischen Besatzung. Die Besatzung Palästinas durch Israel sei deshalb die “billigste Besatzung” in der Geschichte. Indem die internationale Gemeinschaft zwar über Entwicklung, nicht jedoch über die Auswirkungen der Besatzung auf die palästinensische Ökonomie sprechen würde, unterstütze sie gewollt oder ungewollt die fortwährende Besatzung Palästinas.

Conclusio

Die von Samia Botmeh und Leyla Farsakh dargelegten Argumente ermöglichen ein Verständnis dafür, aus welchen politischen Gründen der Autonomiebehörde 2006 durch die palästinensische Bevölkerung eine Abfuhr erteilt wurde. Eine kritische Reflexion über diese Entwicklung ist in der europäischen Öffentlichkeit vor allem deshalb schwer möglich, da eine politische Lösung für diese festgefahrene Situation eine Miteinbeziehung aller involvierten Parteien voraussetzen würde. Wenn europäische PolitikerInnen sich konsequent weigern dieser Diskussion eine Chance zu geben, boykottieren sie nicht nur die neu gewählte Regierung, sondern letztlich auch den Willen breiter Teile der palästinensischen Bevölkerung.

Eine palästinensische Entwicklungshilfe unter Ausklammerung politischer Fragen zur Besatzung negiert nicht nur eine Jahrzehnte alte Geschichte palästinensischer Selbstorganisation vor Oslo innerhalb und außerhalb Palästinas wie z.B. in den Flüchtlingslagern, sie zeugt auch von der Vorstellung, letztlich besser zu wissen was gut für die betroffenen Menschen sei; ein Standpunkt, der im Kontext der kolonialen Vergangenheit Europas wohl kaum eine fortschrittliche Perspektive darstellt.

Palästinenserinnen und Palästinenser zu EmpfängerInnen von Brot und Nahrungsmitteln werden zu lassen, denen jegliche Selbstbestimmung abgesprochen wird, ist nicht nur unethisch, es wird vor allem auf breite Ablehnung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung stoßen und die Abwendung von Europa und den Vertrauensverlust durch das Embargo und den Gazakrieg rasant vorantreiben.

Dies wird letztlich nur gewaltvoll durchzusetzen sein, da ein NGO-Apparat, der westlichen Geberländern genehm ist, in Palästina nur durch repressive Maßnahmen aufrecht erhalten werden kann.

Wenn also heute von VertreterInnen der Geberländer palästinensische Neuwahlen oder ein Referendum gefordert wird, stellt sich die Frage, wie vor dem Hintergrund eines derartigen Repressionsapparates, wie er in den letzten Jahren in Palästina aufgebaut wurde, demokratische Wahlen möglich sein könnten? Ganz abgesehen davon, dass mehr als 5 Millionen PalästinenserInnen in der Diaspora leben und vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, bleibt die Frage aufrecht, warum die Wahlentscheidung von 2006 bis heute nicht anerkannt wurde, welche Ergebnisse man sich unter den veränderten Gegebenheiten derzeit in Palästina erhofft und welchen Preis die palästinensische Bevölkerung dafür zu zahlen haben wird. Unserer Einschätzung nach würde eine derartige Vorgehensweise von wenig politischer Weitsicht zeugen und die EU in ihrer Palästinapolitik erneut in eine politische Sackgasse führen.
 

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